Das Murg-Hochwasser vom
10./11. Juni 1876 (Thurgauer Zeitung)
Am Samstag nach 4 Uhr
Abends überzog der Himmel von Nordost nach Südost her zugleich mit
finstern Gewitterwolken, die nahe der Erde tief und unheimlich
heranziehend, bald unter heftigen Entladungen gewaltige Regenströme
auszuschütten begannen. Die Murg , die sonst so harmlos ihre Wellen
zwischen den Weidengebüschen des Ufers fortzuspühlen pflegt, nahte
jetzt in furchtbar gigantischer Gestalt weithin Alles in ihren
tosenden gelben Fluten begrabend und fortreissend, was ihnen nicht
Widerstand zu leisten vermochte.
Bald nach 9 Uhr ertönte
die Sturmglocke und rief die Feuerwehr und was helfen wollte und
konnte zur Hülfe herbei. Allein in der finstern Nacht und bei dem
strömenden Regen stand der Mensch dem feindlichen Element machtlos
gegenüber. Bäume, die man demselben hätte entgegen werfen können,
waren keine zur Hand oder wo sie, wie in der untern Promenade zu
finden gewesen, war ihnen schon nicht mehr beizukommen. Das
Hauptaugenmerk war auf die beiden steinernen Murgbrücken und
einzelne Stellen zu richten, wo man das Murgbett durch Bauten
ungebührlich hatte verengen lassen.
Daneben handelte es sich
hauptsächlich um Räumung der bedrohten Wohnungen und gewerblichen
Etablissementen, welcher Aufgabe sich namentlich die freiwillige
Feuerwehr mit anerkennungswerther Hingebung unterzog. Allein das
Wasser liess nicht viel Zeit dazu, indem es zusehends stieg und
binnen weniger Stunden die bisher nie gesehene Höhe von circa 25
Fuss (7.50 Meter) über seinen Normalstand erreichte. Sein erstes
Opfer war der eiserne Steg bei der Rothfarbe; ihm folgte der
hochschwebende Steg bei der Bierbrauerei Frei und ein kleineres
Gebäude bei der Seidenzwirnerei im „Gutschick“.
Weit Schlimmeres
folgte nun Schlag auf Schlag. Mit unterschiedlicher Wut stürmte der
Strom gegen das am Eingang der untern Promenade, sonst hoch über dem
Murgbett gelegene Etablissement Mutter (Eisengiesserei) an. Es
mochte gegen Mitternacht sein – die Stunden schwanden im Fluge -
da stürzte unter gewaltigem Krachen daselbst, fernhin hörbare
Brausen des Stromes weit übertönte das Giessereigebäude in die
Tiefe. Noch stand aber das höher gelegene Wohnhaus, aus dem man
rettete was zu retten war.
Allein nicht lange, so barst dieses
mitten entzwei und mit der Hälfte, die vom Strom verschlungen wurde,
wurde auch einer der braven Retter, Schriftsetzer Munz. fortgerissen.
Sein Leichnam wurde am Sonntag Morgen im Gestrüppe der untern
Promenade gefunden. Ein zweites Opfer ist Förster Erni, der bei der
Rohrer Thurbrücke das Leben verlor, indem er die bereits tief unter
Wasser stehende Brücke passieren wollte und einen Dritten soll die
Murg hergetragen haben). Ungefähr zu gleicher Zeit – ob etwas
früher oder später, ,riss der Strom von den unterhalb der oberen
Murgbrücke gelegenen Gebäulichkeiten des Mühlenmachers Freund,
mehrere Häuser samt den Gärten fort.
Nun schien der Zorn des
Elementes einigermassen besänftigt zu sein; das Wasser fiel und man
durfte sich der Hoffnung hingeben, dass des Unheils genug sei. Der
Sonntagmorgen enthüllte ein ernüchterndes Bild der Zerstörung
und der Regen ergoss sich noch immer in Strömen. Nachmittags begann
der Strom , der um etwa 15 Fuss (4.50 Meter) gefallen war, neuerdings
zu steigen und nach 3 Uhr erschien die Lage wieder als so
bedrohlich, dass die Sturmglocken abermals zur Hülfe rufen mussten.
Jetzt konnte, da es noch hell war, der Verheerung etwas wirksamer
begegnet werden. Der Wasserstand erreichte auch bei circa 6 Fuss
nicht die Höhe der Nacht; aber wo das Wasser angefressen , besonders
an den Bückenpfeilern, da frass es in der Tiefe unaufhaltsam fort,
was dann heute Morgen in seinen Folgen zu Tage trat.
Montag: Gegen 8 Uhr
Morgens vernimmt man Kanonendonner. Es heisst, dass nun auch die
gefürchteten Hochwasser der Thur nahen. Sie sind aber schon da und
dringen bereits nahe an das etwa eine halbe Stunde entlegene Langdorf
(nordöstliche Vorstadt von Frauenfeld).
Die Kanonenschüsse waren
aber nicht Allarmzeichen, sondern galten dem Turbinenhause der Fabrik
zum „Gutschick“ , das zusammengeschossen werden musste, damit es
nicht, vom Strome ganz fort gerissen, die nahe untere Murgbrücke
zwischen Frauenfeld und Kurzdorf sperre das Wasser nach beiden Seiten
abdränge und schliesslich die auf der einen Seite schon tief
unterwühlte Brücke selbst vernichte, wie es die Eisenbahnbrücke
bereits zerstört und die neue eiserne Gitterbrücke im Langdorf zu
zerstören im Begriffe steht.
Zur Stunde ist jenes schlimmste zwar
noch nicht eingetreten, aber jeden Augenblick zu fürchten, da das
Wasser noch nicht fällt. Mittlerweile setzt dieses sein
Zerstörungswerk andernorts mit ungeschwächter Kraft fort. Bald nach
9 Uhr wird uns berichtet, dass der Pfeiler der Gittereisenbahnbrücke
am südlichen Ufer eingestürtzt und ein Stück des Kanals zwischen
der Seidenzwirnerei in der Ergarten und dem Etablissement Martini,
Tanner und Cie.
In ziemlicher Höhe über dem Bett weggeschwemmt
worden; ebenso die Schreinerei der letztern Fabrik und dass nun deren
Eisenmagazin in grösster Gefahr schwebe. Gleichzeitig vernehmen
wir, dass auch die schöne lange Thurbrücke bei Rohr, die erst vor
etwa zwölf Jahren, mit grossen Opfern der Gemeinden erstellt worden,
vollständig fortgerissen worden.
So der Stand der Dinge in
Frauenfeld, Montagvormittag 10 Uhr.
Auch in Matzingen
wütete die Murg, nebst der Lauche. Ein paar Notizen aus einem
Zeitungsbericht:
Am 8. Juni 1876 setzten
schwere Gewitter ein und zwei Tage später begann es heftig zu
regnen. Die fünf Flüsse in Matzingen überlagerten sich. Bei der
Spinnerei Matzingen legte sich ein Erdrutsch quer über die Strasse
und zwischen den Posthäusern und dem Dorf war diese auf rund 60
Mater weggespühlt.
Die Lauche hatte die
Landstrasse beim Schulhaus ausgelöscht. Ein trauriger Anblick ergab
der Friedhof mit den freigelegten Särgen, die den Fluss
hinuntertrieben.
Der Wasserstand war bald
auf drei Meter angestiegen. Die Murg trat über das Lauchefeld.
Die Neubrücke und die
Teigwarenfabrik und die Mühle mussten teilweise verlassen werden.
Die hölzerne Notbrücke über die Lauche wurde nach dem Hochwasser
als erste erstellt.
Uesslingen, 8. Januar
2016
Alfons Lenz
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen