Freitag, 25. Dezember 2015

Historisches Zeugnis *** Das Murg-Hochwasser vom 10./11. Juni 1876 (Thurgauer Zeitung)


Das Murg-Hochwasser vom 10./11. Juni 1876 (Thurgauer Zeitung)

Am Samstag nach 4 Uhr Abends überzog der Himmel von Nordost nach Südost her zugleich mit finstern Gewitterwolken, die nahe der Erde tief und unheimlich heranziehend, bald unter heftigen Entladungen gewaltige Regenströme auszuschütten begannen. Die Murg , die sonst so harmlos ihre Wellen zwischen den Weidengebüschen des Ufers fortzuspühlen pflegt, nahte jetzt in furchtbar gigantischer Gestalt weithin Alles in ihren tosenden gelben Fluten begrabend und fortreissend, was ihnen nicht Widerstand zu leisten vermochte.


Bald nach 9 Uhr ertönte die Sturmglocke und rief die Feuerwehr und was helfen wollte und konnte zur Hülfe herbei. Allein in der finstern Nacht und bei dem strömenden Regen stand der Mensch dem feindlichen Element machtlos gegenüber. Bäume, die man demselben hätte entgegen werfen können, waren keine zur Hand oder wo sie, wie in der untern Promenade zu finden gewesen, war ihnen schon nicht mehr beizukommen. Das Hauptaugenmerk war auf die beiden steinernen Murgbrücken und einzelne Stellen zu richten, wo man das Murgbett durch Bauten ungebührlich hatte verengen lassen. 

Daneben handelte es sich hauptsächlich um Räumung der bedrohten Wohnungen und gewerblichen Etablissementen, welcher Aufgabe sich namentlich die freiwillige Feuerwehr mit anerkennungswerther Hingebung unterzog. Allein das Wasser liess nicht viel Zeit dazu, indem es zusehends stieg und binnen weniger Stunden die bisher nie gesehene Höhe von circa 25 Fuss (7.50 Meter) über seinen Normalstand erreichte. Sein erstes Opfer war der eiserne Steg bei der Rothfarbe; ihm folgte der hochschwebende Steg bei der Bierbrauerei Frei und ein kleineres Gebäude bei der Seidenzwirnerei im „Gutschick“. 

Weit Schlimmeres folgte nun Schlag auf Schlag. Mit unterschiedlicher Wut stürmte der Strom gegen das am Eingang der untern Promenade, sonst hoch über dem Murgbett gelegene Etablissement Mutter (Eisengiesserei) an. Es mochte gegen Mitternacht sein – die Stunden schwanden im Fluge - da stürzte unter gewaltigem Krachen daselbst, fernhin hörbare Brausen des Stromes weit übertönte das Giessereigebäude in die Tiefe. Noch stand aber das höher gelegene Wohnhaus, aus dem man rettete was zu retten war. 

Allein nicht lange, so barst dieses mitten entzwei und mit der Hälfte, die vom Strom verschlungen wurde, wurde auch einer der braven Retter, Schriftsetzer Munz. fortgerissen. Sein Leichnam wurde am Sonntag Morgen im Gestrüppe der untern Promenade gefunden. Ein zweites Opfer ist Förster Erni, der bei der Rohrer Thurbrücke das Leben verlor, indem er die bereits tief unter Wasser stehende Brücke passieren wollte und einen Dritten soll die Murg hergetragen haben). Ungefähr zu gleicher Zeit – ob etwas früher oder später, ,riss der Strom von den unterhalb der oberen Murgbrücke gelegenen Gebäulichkeiten des Mühlenmachers Freund, mehrere Häuser samt den Gärten fort.

Nun schien der Zorn des Elementes einigermassen besänftigt zu sein; das Wasser fiel und man durfte sich der Hoffnung hingeben, dass des Unheils genug sei. Der Sonntagmorgen enthüllte ein ernüchterndes Bild der Zerstörung und der Regen ergoss sich noch immer in Strömen. Nachmittags begann der Strom , der um etwa 15 Fuss (4.50 Meter) gefallen war, neuerdings zu steigen und nach 3 Uhr erschien die Lage wieder als so bedrohlich, dass die Sturmglocken abermals zur Hülfe rufen mussten. 

Jetzt konnte, da es noch hell war, der Verheerung etwas wirksamer begegnet werden. Der Wasserstand erreichte auch bei circa 6 Fuss nicht die Höhe der Nacht; aber wo das Wasser angefressen , besonders an den Bückenpfeilern, da frass es in der Tiefe unaufhaltsam fort, was dann heute Morgen in seinen Folgen zu Tage trat.

Montag: Gegen 8 Uhr Morgens vernimmt man Kanonendonner. Es heisst, dass nun auch die gefürchteten Hochwasser der Thur nahen. Sie sind aber schon da und dringen bereits nahe an das etwa eine halbe Stunde entlegene Langdorf (nordöstliche Vorstadt von Frauenfeld). 

Die Kanonenschüsse waren aber nicht Allarmzeichen, sondern galten dem Turbinenhause der Fabrik zum „Gutschick“ , das zusammengeschossen werden musste, damit es nicht, vom Strome ganz fort gerissen, die nahe untere Murgbrücke zwischen Frauenfeld und Kurzdorf sperre das Wasser nach beiden Seiten abdränge und schliesslich die auf der einen Seite schon tief unterwühlte Brücke selbst vernichte, wie es die Eisenbahnbrücke bereits zerstört und die neue eiserne Gitterbrücke im Langdorf zu zerstören im Begriffe steht. 

Zur Stunde ist jenes schlimmste zwar noch nicht eingetreten, aber jeden Augenblick zu fürchten, da das Wasser noch nicht fällt. Mittlerweile setzt dieses sein Zerstörungswerk andernorts mit ungeschwächter Kraft fort. Bald nach 9 Uhr wird uns berichtet, dass der Pfeiler der Gittereisenbahnbrücke am südlichen Ufer eingestürtzt und ein Stück des Kanals zwischen der Seidenzwirnerei in der Ergarten und dem Etablissement Martini, Tanner und Cie. 

In ziemlicher Höhe über dem Bett weggeschwemmt worden; ebenso die Schreinerei der letztern Fabrik und dass nun deren Eisenmagazin in grösster Gefahr schwebe. Gleichzeitig vernehmen wir, dass auch die schöne lange Thurbrücke bei Rohr, die erst vor etwa zwölf Jahren, mit grossen Opfern der Gemeinden erstellt worden, vollständig fortgerissen worden.

So der Stand der Dinge in Frauenfeld, Montagvormittag 10 Uhr.

Auch in Matzingen wütete die Murg, nebst der Lauche. Ein paar Notizen aus einem Zeitungsbericht:

Am 8. Juni 1876 setzten schwere Gewitter ein und zwei Tage später begann es heftig zu regnen. Die fünf Flüsse in Matzingen überlagerten sich. Bei der Spinnerei Matzingen legte sich ein Erdrutsch quer über die Strasse und zwischen den Posthäusern und dem Dorf war diese auf rund 60 Mater weggespühlt.
Die Lauche hatte die Landstrasse beim Schulhaus ausgelöscht. Ein trauriger Anblick ergab der Friedhof mit den freigelegten Särgen, die den Fluss hinuntertrieben.

Der Wasserstand war bald auf drei Meter angestiegen. Die Murg trat über das Lauchefeld.
Die Neubrücke und die Teigwarenfabrik und die Mühle mussten teilweise verlassen werden. Die hölzerne Notbrücke über die Lauche wurde nach dem Hochwasser als erste erstellt.


Uesslingen, 8. Januar 2016
Alfons Lenz

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